Wolfgang Klafki stellt die Gesellschaft in den Mittelpunkt seiner Betrachtung, genauer:
die Probleme der Gesellschaft. Er sieht, wie viele in jenen Jahren, die Gefahren für die
Zukunft der Menschheit oder wie es Hans Jonas 1984 mit warnendem Impetus formulierte: die
Existenz der Menschheit darf nicht zum Einsatz gemacht werden für die ökonomischen und
politischen Interessen der Gegenwart.
Doch, wo Hans Jonas auf einen neuen Ethikbegriff rekurrierte, verknüpft Wolfgang Klafki ganz in
der Tradition der Aufklärung seine Hoffnung mit der Fähigkeit der Menschen zur Selbstbestimmung
und zur Vernunft durch Bildung. Und es mutet wie ein vergessener Rekurs auf marxistische
Theorie an, wenn er diese Hoffnung koppelt an ein Mensch-Sein unter Menschen,
das es ermögliche eben diese Vernunft dem Subjekt zugänglich zu machen - mit Klafki formuliert:
"Bildungsfragen sind Gesellschaftsfragen" (Klafki 1994, S. 50).
Damit befand sich sein Vortrag aus dem Jahr 1992 auf der Höhe der Zeit, denn über
Gesellschaftsfragen finden wir in den 1980er und zu Beginn der 1990er Jahre eine
lebendige und streitlustige Diskussion. Einer der zentralen Begriffe war dabei der der
Zivilgesellschaft. Die Debatte ging um die Bewältigung der Aufgabe, das
Zusammenleben der Menschen als aktives, interessen- und vielleicht gar bedürfnisorientiertes
demokratisches Gemeinwesen zu gestalten. Wie wollen und wie können wir zusammen leben, um der
Gattung Mensch noch eine Zukunft zu geben, lässt sich vielleicht als entscheidende Frage jener
mit Katastrophenszenarien bestückten Zeit (z.B. in den Schriften von Hoimar von Ditfurth)
formulieren, die sich wohl zurecht stetig am Rande des Atomkriegs wähnte
(z.B. in den Schriften von Dorothee Sölle).
Die Frage nach dem Wie wollen und wie können wir zusammen leben? ist in Klafkis
Schriften eine stets präsente. Er stellt sie unter dem Blickwinkel der Zukunftsorientierung,
d.h. er sucht in der Gegenwart die zentralen Probleme der Menschheit, von deren Lösung ihr
Überleben abhänge und versucht - ganz Erziehungswissenschaftler -, Möglichkeiten zu entwickeln,
die das Potenzial einer Problemlösung in sich tragen.
Betrachten wir die aktuelle politische Diskussion in diesem Land, fällt recht schnell auf,
dass die Frage nach der Ausgestaltung des Zusammenlebens keine wirklich relevante mehr ist.
An ihre Stelle rückt die Frage der Finanzierbarkeit. Statt: Wie wollen wir zusammen leben?,
heißt es nun: Was können wir finanzieren? - als könnte beides nicht getrennt gedacht werden.
Nur wenn es der Ökonomie gut geht, so der heutige Tenor, kann es den Menschen gut gehen.
Dies ist ein Satz, dem kaum mehr widersprochen wird. Warum lässt sich Wenn es den Menschen
gut geht, geht es der Ökonomie gut heute nichtmals mehr denken, geschweige denn
artikulieren?
Selbst Kindern in der Grundschule ist das Finanzierbarkeitsdenken längst vertraut. So antwortete
ein Jungen in der 4. Klasse auf die Frage, was denn Politiker machen würden: "... darüber
nachzudenken, ähm, wofür sie dann Geld ausgeben sollen, weil, Deutschland ähm, ist ja nicht
so ein ganz reiches Land und kann für alles Geld ausgeben. Die haben so viel Schulden."
Vielleicht noch deutlicher wird der Zeitgeist sichtbar, wenn wir das epochaltypische
Schlüsselproblem der gesellschaftlich produzierten Ungleichheit betrachten.
Die einzelnen Momente, die von Klafki hierunter gefasst werden, wie die Ungleichheit
zwischen Männern und Frauen, zwischen behinderten und nicht-behinderten Menschen etc. bilden
nach wie vor Handlungsfelder sowohl der Pädagogik als auch der Politik. Doch hat sich ihre
Betrachtung gewandelt. Lag bei Klafki noch die Intention darauf, Ungleichheit
zugunsten allgemeiner Gleichheit und Gerechtigkeit nach Möglichkeit gänzlich zu negieren, so
finden wir heute an zentraler Stelle den Begriff der Differenz. Dieser Begriff hat neue
Spielräume geöffnet. Zum einen findet sich hier ein bedeutsamer Diskurs, in dem darauf
verwiesen wird, dass Egalität Subjektivität negiert und wir uns nicht um die Gleichheit der
Menschen mühen müssen, sondern um ihre Verwirklichung als einmalige, verschiedene
(und gleichberechtigte) Subjekte (z.B. Prengel 1995). Zum anderen finden wir - gerade in
der aktuellen Politik (z.B. in den Debatten um Hartz IV) - ein Beharren auf Ungleichheit,
das jene soziale Kluft zwischen Menschen als Ergebnis von erbrachten Leistungen definiert.
Hier wird der Differenzbegriff schlicht als Legitimation und als ein recht verschrobener
Begriff genutzt, der die ohnehin ja nur schwer handhabbare Gerechtigkeit
präsentieren soll. Ein Moment, in dem dieser Wandel klar hervortritt, wird in Meusers
Studie zu Männlichkeiten (1998) dargestellt. In bestimmten männlichen Bevölkerungsgruppen
ist Anerkennung nicht mehr geknüpft an das Geschlecht, sondern an dessen Stelle tritt die
Leistung (und damit ein zutiefst männliches Anerkennungskriterium, womit die Bedeutung von
Geschlechtlichkeit nur verlagert wird).
Gleichheit ist in Klafkis Begriff von Bildung - auch wenn er gerade diesen Aspekt
nicht spezifisch dem Sachunterricht zuweist - insbesondere in jenem Moment verankert, das er
als Bildung für Alle bezeichnet. Zwar stellt er diesen ersten Aspekt seiner
zweiten Bildungsdimension den weiteren Aspekten als gleichrangig zur Seite, doch scheint dies
ein Kern, ein Ausgangspunkt der Überlegungen zu sein. Die Frage, ob dies veraltet
oder utopisch ist, ist keine rhetorische. Wir finden dieses Argument nicht mehr
in den öffentlichen Debatten. Nichtmals in den Debatten um die vieldiskutierten und oft
zerredeten PISA-Befunde, die doch nichts so klar zeigten, als dass Bildung hierzulande abhängig
ist von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht (in zynischen Moment bin
zumindest ich beinah geneigt, hier wieder den Begriff der Klassen zu nutzen).
Und angesichts der PISA-Befunde ist es nur konsequent auch den Hochschulzugang abhängig von
der finanziellen Situation des Elternhauses zu gestalten. Bildung für Alle
ist allenfalls noch eine Utopie von Menschen, die den Zeitgeist verpasst haben.
Den Sachunterricht scheint indes eine gewisse Widerstandskraft gegen den Zeitgeist auszuzeichnen.
Die von Klafki formulierten grundlegenden Probleme haben als epochaltypische Schlüsselprobleme,
dem zweiten Aspekt der zweiten Dimension seines Bildungsbegriffs, ihren Platz in der
fachdidaktischen Diskussion gefunden. Insbesondere im Sachunterricht und seiner Didaktik
finden sich selten Publikationen, die vergessen auf Klafkis Bildung im Medium
des Allgemeinen zu verweisen. Mit seinem Impuls auf der Gründungstagung der GDSU und
der bereits im Titel des Vortrags enthaltenen Verbindung von Sachunterricht und Allgemeinbildung,
hat er einem Fach eine Legitimationsmöglichkeit geliefert, das aus sich heraus Mühe hat,
ein Selbstverständnis - erst recht ein bildungsrelevantes - zu formulieren. Für Pech und
Kaiser (2004) bietet Klafkis Bildungstheorie die Strukturierungsmöglichkeit für die
"Begegnung von Kind und Welt". Bei Dagmar Richter werden die epochaltypischen
Schlüsselprobleme gar "quasi als Ersatz für die fehlende dominante
Bezugswissenschaft des Faches" (Richter 2002, S. 114) angesehen. Joachim Kahlert spricht
daher hinsichtlich des Bildungsbegriff in Anlehnung an Einsiedler gar von einem
"Kristallisationspunkt" (Kahlert 2002, S. 26) für den Sachunterricht.
Vielleicht ließe sich auch einfach von einem Minimalkonsens sprechen.
Doch nur selten finden wir den Begriff der Allgemeinbildung eingebettet in seine
zeithistorische Konnotation. Sind jene Fragen Klafkis - einmal abgesehen von jener nach
Krieg und Frieden, die in jüngster Zeit in erstaunlicher Weise neue Relevanz
erlangte - tatsächlich heute als didaktische Orientierung von Belang? Wie kann ein Ansatz
Kristallisationspunkt sein, wenn es keine Diskussion - weder eine fachliche noch
eine politische - um die Lösung von gesellschaftlichen Problemlagen gibt, sondern allenfalls
ihre Verwaltung oder Beschreibung? Sicher ist dies ein wenig plakativ und einigen Ansätzen,
wie bspw. jenem der Bildung für eine nachhaltige Entwicklung, die sich um einen
Paradigmenwechsel müht, nicht wirklich angemessen, doch geht es mir hier um den
Grundtenor und nicht um das Aufzeigen von Hoffnungsspuren.
Manchmal verwirrend ist die Nutzung des Terminus der Fähigkeiten im Verständnis
Klafkis. Denn diese finden sich in einem doppelten Verständnis. Zum einen bestimmt Klafki sie
als immanentes Moment von Bildung. So beinhalt diese erste Dimension von Bildung in Klafkis
Verständnis Selbstbestimmungs-, Mitbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit. Ohne Frage zeigt
sich hier die Nähe zum klassischen Bildungsverständnis, wie es dann im Sachunterrichtsdiskurs
von Dagmar Richter (2002) wieder mit den Zielstellungen Aufklärung, Emanzipation und
Mündigkeit in den Mittelpunkt gerückt wurde. Diese - so lässt sich zumindest der Aufbau
der Publikation deuten - scheinen ihr sinnvoller, als jene Klafkis. Keineswegs nimmt Klafki
Abstand von diesen Zielen, er verweist gar auf sie. Doch warum benennt er sie dann anders?
Eine recht schlichte Antwort ist, dass Klafki bereits stärker das Subjekt als handelndes in
sein Verständnis von Bildung integriert. Gleichheit in Verschiedenheit -ist in
Klafkis Gedankens bereits angelegt, auch wenn ohne Frage der Egalitätsgedanke im Vordergrund
steht.
Der Differenzbegriff deutet sich am stärksten im dritten Aspekt der zweiten Dimension des von
Klafki formulierten Bildungsverständnisses an. An dieser Stelle fordert er eine
"vielseitige Interessen- und Fähigkeitsförderung durch die Entwicklung von
elementaren Kategorien und Formen des Wirklichkeits- und Selbstverständnisses von
Grundschulkindern" (Klafki 1992, S. 24). Diesem Aspekt kommt bezogen auf Sachunterricht
eine besondere Bedeutung zu. Explizit formuliert er, dies sei die notwendige "polare
Ergänzung" (ebd.) zur Orientierung an den epochaltypischen Schlüsselproblemen.
D.h. heißt, die Befähigung des Subjekts zur handelnden Gestaltung von Welt und der Orientierung
des Bildungsprozesses an der Lösung ihrer Probleme bedarf der konsequenten Förderung jedes
einzelnen Mädchens und jedes einzelnen Jungens (auch oder insbesondere) im Sachunterricht der
Grundschule. Obwohl Klafki in seinem Vortrag, in dem er sich ja der Aufgabe stellt, seinen
Entwurf von Bildung gezielt auf den Sachunterricht zu denken, diese Gleichzeitigkeit
ausdrücklich betont, finden wir in der Rezeption des Textes hingegen überwiegend eine
eindeutige oder gar ausschließliche Betonung der epochaltypischen Schlüsselprobleme.
Dies scheint mit ein Kernproblem in der sachunterrichtlichen Bearbeitung des Klafkischen
Entwurfs: Er wird passend gemacht.
Sicher bedarf es einer Aufklärung der Lebenswelten und hierzu gehört auch die Kategorie des
Wissens, die in den letzten Jahren im Zuge von Debatten, die versuchten die Erkenntnistheorien
des Konstruktivismus didaktisch fruchtbar zu machen, oft eher gering geschätzt wurde. Doch
Aufklärung bleibt außeninitiiert, Aufklärung kann nur von einem überlegenen
Standpunkt erfolgen und Aufklärung beinhaltet, dass induktives Lernen, also ein Lernen das
seinen Ausgangspunkt in den Subjekterfahrungen verortet, nicht ausreicht für ein ausreichendes
Verständnis von Welt. Die Klafkischen Begriffe hingegen fußen im Subjekt, denn es handelt sich
einzig um Fähigkeiten, die das Subjekt ausbilden kann und muss, um eine - nennen wir es einmal
zukunftsorientierte - Bildung einzulösen. Über das Wie ist damit indes noch nichts
gesagt.
In der Skizzierung des Wie finden wir eine zweite Formulierung von Fähigkeiten.
Hier sind es grundlegende Fähigkeiten, derer es zur Einlösung des dargestellten komplexen
Entwurfs von Bildung bedarf. Klafki nennt hierbei Kritikfähigkeit (auch als Selbstkritik),
Argumentationsfähigkeit, Empathie und Zusammenhangsdenken (vgl. Klafki 1994, S. 63).
Gerade die Forderung, Kindern die Möglichkeit zu eröffnen, Zusammenhänge zu entdecken,
finden wir in den letzten Jahren nicht nur im Sachunterricht und seiner Didaktik.
Doch zumeist - und dies ist wohl ein Widerspruch zur Entdeckung der Zusammenhänge - ausgehend
von den einzelnen Disziplinen gedacht. So finden wir in den Diskussionen um scientific literacy
Argumentationen, die besagen, dass gesellschaftliche Prozesse nicht zu verstehen sind ohne
technisch, naturwissenschaftliche Kenntnisse. In einigen Publikationen ergänzt mit dem Hinweis,
dass auch die sozialwissenschaftlichen Aspekte durchaus relevant seien (vgl. Dubs 2002).
Doch eigentlich wird nie die Position verlassen, dass es das Wissen meiner - in
diesem Fall naturwissenschaftlichen - Disziplin ist, das Menschen für den Erwerb von
Allgemeinbildung benötigen. Der Zusammenhang wird aus der Fachperspektive entdeckt und eben
nicht aus der Subjektperspektive, was einen eklatanten Unterschied im Verständnis von Bildung
charakterisiert. Es gibt noch ein zweites Moment, das meines Erachtens die derzeitigen
Diskussionen hinter das Bildungsverständnis Klafkis zurückfallen lässt. So vertritt Dubs im
selben Aufsatz bezogen auf scientific literacy die Ansicht, dass die differenzierte und
komplexe Auseinandersetzung mit Zusammenhängen wohl nur im Gymnasium einzulösen sei.
Bildung für Alle wird also erneut in hierarchisches Verständnis erwarteter
Leistungen gegliedert, die Differenz der Subjekte als Unterschiedlichkeit und nicht als
Gleichheit gedacht.
Die hier formulierten Gedanken lassen sich bündeln als Forderung Gesellschaft und
die Fähigkeiten zu ihrer Gestaltung im Sachunterricht und seiner Didaktik nicht nur neu zu
denken, sondern ins Zentrum eines sachunterrichtlichen Bildungsbegriffs zu stellen. Ein Rekurs
auf Klafkis bildungstheoretische und didaktische Impulse für den Sachunterricht ohne ihre
gesellschaftspolitische Intention - und so werte ich den Großteil der vorliegenden
Fachliteratur - scheint mir zumindest verfehlt und steht in einer sachunterrichtliche
Tradition, die Dagmar Richter vor einigen Jahren dahingehend zusammenfasste, "daß zu
den tradierten Grundzügen des Sachunterrichts auch die weitgehende Verhinderung Politischer
Bildung gehört" (Richter 1996, S. 263).
"The proof of the pudding is in the eating." (Friedrich Engels (1892) 1982, S. 530)
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